8.

 

Bunt geschmückt ist die Stadt mit der Lichtkettenflut,
 Doch im Schnee bleibt zurück leuchtend rot Möwenblut.

 

Matt starrte aus dem großen Erkerfenster seiner Küche auf das aufgewühlte Meer. Er sah finster die schäumenden Wellen an und richtete den Blick auf die Dunkelheit weit draußen in der Ferne, fast schon am Horizont, wo eine Masse zu erstarren und feste Gestalt anzunehmen schien. Dunkle Wolken hatten sich über den gesamten Himmel ausgebreitet, während die drei Männer das Chaos in seinem Fotolabor gründlich nach Spuren abgesucht hatten. Matt hatte Anrufe von seinen Eltern und von seinen Brüdern entgegengenommen, die sich vergewissern wollten, dass er gesund und munter war und dass sein Haus noch stand. Kate hatte Anrufe von ihren Schwestern bekommen.

Sie hatte gerade geduscht, war in seinen Bademantel gehüllt und saß auf dem Stuhl, der ihm am nächsten stand. »Es ist dort draußen, nicht wahr?«, fragte sie leise. »Es tut mir so leid, dass deine Laboreinrichtung draufgegangen ist.«

Er drehte sich abrupt zu ihr um und sah sie an. »Glaubst du etwa, ich gäbe dir die Schuld daran?«

Sie zögerte. »Ich glaube nicht, dass er hierher gekommen wäre, wenn ich nicht hier gewesen wäre. Ich weiß nicht, warum ich ihn anlocke«, sagte sie kopfschüttelnd. »Vielleicht hat er in der alten Mühle meine Witterung aufgenommen. Aber vielleicht nimmt er mich auch als Bedrohung wahr.«

»Dann ist es also eindeutig ein Er. Ich glaube, es nimmt gerade Gestalt an und legt sich eine äußere Form zu«, sagte Matt.

»Ich muss dringend nach Hause gehen und mithelfen, den Eintrag in den Tagebüchern zu finden, der darauf Bezug nimmt. Es gibt ziemlich viele, in denen alles in Symbolen festgehalten ist, und meine Schwestern werden Hilfe brauchen. Ich glaube nicht, dass uns noch viel Zeit bleibt, um dahinterzukommen, Matthew. Bis Weihnachten sind es nur noch ein paar Tage und ich glaube, dieses Ding hat die Absicht zu verhindern, dass die Stadt dieses Weihnachtsfest erlebt.« Das klang sogar in ihren eigenen Ohren reichlich melodramatisch. Wie konnte sie auf eine Beziehung mit Matthew Granite hoffen und dennoch sein, wer sie war und was sie war?

»Uns bleibt genug Zeit, Kate. Wir gehen, sowie wir hier das Nötigste erledigt haben. Das verspreche ich dir.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Was gibt es hier noch zu erledigen? Ich dachte, du hättest dich gemeinsam mit Jonas und Jackson schon um alles gekümmert.«

Matt tappte barfuß zu ihr hinüber und hob sie schlicht und einfach hoch. »Für mich ist das alles noch sehr neu und gewöhnungsbedürftig.«

Kate verschränkte ihre Finger in seinem Nacken. »Ich gebe zu, dass ich so etwas auch noch nicht erlebt habe.« Sie wollte ihn. Ob es nun angemessen war oder nicht, aber für diesen kurzen Zeitraum gehörte Matthew ihr ganz allein.

»Ich habe nicht von unserem nebelhaften Freund gesprochen, sondern von dir. Davon, dich in meinem Haus zu haben, so dicht neben mir, dass ich dich jederzeit ansehen oder anfassen kann.« Er setzte sie auf die gekachelte Anrichte und ließ eine Hand unter ihren Bademantel gleiten.

Es begeisterte ihn, dass sie sofort auf ihn reagierte und seiner Hand entgegenkam, ihn willkommen hieß. »Erinnere mich daran, dass ich mich bei deiner Schwester für die Warnung  bedanke.« Matt beugte sich vor und löste seine Hand mit seinem warmen Mund ab.

»Du scheinst auf Brüste fixiert zu sein«, neckte sie ihn.

»Hm, kann schon sein«, stimmte er ihr zu, während seine Hände unter dem Bademantel auf ihre Taille und über ihre Hüften glitten. »Aber du hast auch einen wunderschönen Hintern, Kate. Ich liebe deinen Gang. Früher habe ich dich oft von hinten beobachtet, um meinen Phantasien etwas mehr Leben einzuhauchen.«

Er zwängte sich zwischen ihre Beine und Kate spreizte ihre Schenkel weiter, um ihn aufzunehmen. »Mein Hinterteil hat in deinen Phantasien eine Rolle gespielt?«

»Und ob. Eine größere als du dir jemals vorstellen wirst.« Er küsste sie leidenschaftlich auf den Mund. Ihre Finger verflochten sich mit seinem Haar, als sein Kuss sie in Glut versetzte. Seine Finger schlangen sich in ihr Haar und ihre Münder waren derart miteinander verschweißt, dass jeder für den anderen atmete. Er zog ihren Hintern dichter an die Kante der Anrichte und riss ihren Bademantel ganz auf. »In meinen Phantasien habe ich mir jeden einzelnen deiner Körperteile ganz genau ausgemalt.« Mit größter Behutsamkeit öffnete er sie.

»Matthew.« Kates Stimme klang atemlos, als sie auf die lange Fensterreihe sah, während ihre Hände sich immer noch in sein Haar gruben. »Was tust du da?«

»Ich verspeise dich zum Frühstück. Das wollte ich schon immer.«

Falls Kate mit dem Gedanken gespielt hatte, zu protestieren, war es längst zu spät. Er verschlang sie bereits und sie war viel zu euphorisch, um sich daran zu stören, wo sie waren. Es war ein herrlich dekadenter Moment und sie kostete ihn in vollen Zügen aus, als eine Woge der Lust nach der anderen sie durchströmte und über sie hinwegbrauste. Die Küche begann sich zu drehen und Farben flössen ineinander, während seine Zunge und seine Finger Wunder an ihrem Körper vollbrachten. Ihre Hände umklammerten die Kante der Anrichte, damit sie bei ihren Höhenflügen nicht jeden Halt verlor. Doch dann hob er sie hoch, legte sie auf den Tisch und begrub sich so tief in ihrem Körper, dass für Gedanken kein Raum mehr war. Für nichts war mehr Raum, nur noch für Empfindungen. Die Geräusche, mit denen ihre Körper zusammenkamen, das Pochen ihrer Herzen und der schwere Atem waren eine Art Musik, die ihre starken Orgasmen begleitete. Sie spürte seine Glut so tief in ihrem Innern, dass sie das Gefühl hatte, von innen heraus zu schmelzen.

Sie blickte in sein scharf geschnittenes Gesicht mit dem markanten Kinn. Seine Augen bargen Geheimnisse, Dinge, die er gesehen hatte und die niemals jemand hätte sehen sollen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie einsam er sogar inmitten seiner Familie wirkte. Wie Jonas. Oder Jackson. Ein Mann, der abseits stand, nicht aus freiem Willen, sondern durch die Erfahrungen, die er gemacht hatte. Kate nahm sein Gesicht in ihre Hände und strich zärtlich mit dem Daumen über die Stoppeln in seinem Gesicht. »Du bist ein wunderbarer Mann, Matthew Granite. Ich hoffe, du weißt, dass du etwas ganz Besonderes bist.«

Er zog sie an sich, als sei sie für ihn das kostbarste Lebewesen auf Erden, und trug sie ins Bad, damit sie duschen konnten. Er sagte wenig, doch er ließ sie keinen Moment lang aus den Augen. Immer wieder streckte er die Hand nach ihr aus und berührte ihren Körper oder ihr Gesicht und seine Finger verweilten auf ihrer Haut. Es schien fast so, als könnte er nicht glauben, dass sie echt war.

»Ich habe nichts Sauberes zum Anziehen«, sagte sie, als sie in ihre Sachen schlüpfte. Zumindest gelang es ihr, ihr Haar zu bändigen und es zu einem langen Zopf zu flechten, den sie drehte, um ihn zu einem raffinierten Knoten in ihrem Nacken aufzustecken.

Er lächelte sie an. »Deine Sachen sind nie schmutzig. Das bildest du dir nur ein.« Er zog eine frische Jeans aus einer Schublade. »Wie können wir herausfinden, worum es sich bei diesem Ding handelt, Katie? Ich muss wissen, womit wir es zu tun haben.«

»Meine Schwestern sind bereits in die Tagebücher vertieft und ich glaube, Damon hilft auch mit. Ich werde mir einen Teil der Aufzeichnungen vornehmen und Elle ist auf dem Heimweg. Es sollte uns bald gelingen, einen Anhaltspunkt zu finden.«

»Was sagt dir dein Bauch?«

Sie kniff die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu unterdrücken. Matts Ausdrucksweise hatte etwas Derbes an sich und das hatte sie schon immer fasziniert. »Ich glaube, dass es etwas mit der Geschichte unserer Stadt zu tun hat, möglicherweise mit einem Ereignis, das sich in der Weihnachtszeit zugetragen hat. Vielleicht hängt es sogar direkt mit dem Umzug zusammen. Ich glaube, das, was sich im Nebel aufhält, gewinnt an Kraft und wird zunehmend destruktiver, aber ich bin nicht ganz sicher, warum es so ist. Der Baum mit den Misteln, der vor der Veranda steht, ist eine Fichte und du hattest Lichterketten darin aufgehängt. Du hattest sie zwar nicht angeschaltet, aber die dunklen Flecken, die eine Art Öl zu sein schienen, haben sich ganz um den Baum herum und am Stamm hinaufgezogen.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, stimmte er ihr zu. »Aber es war nichts da, was die Flüssigkeit in Brand gesetzt hätte.«

»Wenn Elle nicht angerufen und uns gewarnt hätte, wären wir niemals aus dem Haus gegangen, Matthew. Wir wären in dem Raum darüber gewesen, als das Feuer ausgebrochen ist, und dein Schlafzimmer hätte in die Luft fliegen können. Ich glaube, das Feuer wäre dann schnurstracks zu der Fichte gerast, und er hat gehofft, auch sie würde in Flammen aufgehen.«

»Eine seltsame Art, uns zu töten.«

»Vielleicht galt der Anschlag gar nicht nur uns. Vielleicht galt er der Fichte.« Kate setzte sich auf die Bettkante, um Matt beim Anziehen zuzusehen. Seine Bewegungen waren so kraftvoll und fließend und besaßen eine maskuline Anmut, die ihm anscheinend gar nicht bewusst war. »Jedes Symbol, das bisher angegriffen wurde, stand mit dem christlichen Glauben in Verbindung. Schon lange, bevor die Christenheit jemals Weihnachten gefeiert hat, gab es ältere Religionen. Es herrscht die weit verbreitete Auffassung, dass Christus im April und nicht im Dezember geboren wurde.«

Er war gerade dabei, sein Hemd zuzuknöpfen, doch jetzt unterbrach er sich. »Das wusste ich nicht.«

Sie nickte. »Ich bin nicht Elle oder eine der anderen, die manchmal in der Lage sind, Dinge ganz klar zu sehen, aber ich fühle, dass es etwas damit zu tun hat.«

»Und ich kann fühlen, wenn Gefahr naht.« Plötzlich grinste er breit. »Es sei denn, ich bin anderweitig beschäftigt.«

Kate lächelte unwillkürlich. Trotz allem, was passiert war, wirkte er entspannter, als sie ihn jemals erlebt hatte. Sie hatte ihn immer als einen eindrucksvollen Tiger empfunden, der durch die Stadt strich. »Das ist verzeihlich.« Sie stand auf. »Die Nadeln einer Fichte richten sich zum Himmel auf und Fichten sind das ganze Jahr über grün.«

»Und das hat etwas zu bedeuten?«

»Immerwährende Hoffnung. Und von den aufgerichteten Nadeln heißt es natürlich, dass sie für die Gedanken des Menschen stehen, die sich dem Himmel zuwenden. Wenn ich recht hätte, weshalb würde er dann ausgerechnet diese Symbole zerstören wollen? Er richtet seine Angriffe nicht gegen den Weihnachtsmann. Es steckt niemand dahinter, dem der kommerzielle Rummel zu groß ist. Seine Zerstörungswut richtet sich gezielt gegen die Symbole selbst.« Sie blickte zu ihm auf, rieb sich die Schläfen und lächelte matt. »Oder auch nicht. Ich könnte damit auch weit danebenliegen.«

»Das bezweifle ich, Katie. Ich glaube, dass du mit deiner Vermutung richtig liegst. Jedenfalls können wir es im Moment noch nicht näher einkreisen.« Matt sah sie vom anderen Ende seines Schlafzimmers aus an. »Lass uns noch ein paar Lebensmittel einkaufen. Die nehmen wir mit zu euch und dann können wir den ganzen Tag damit verbringen, diese Tagebücher durchzusehen, bis wir etwas finden.«

»Das klingt gut. Ich möchte nach Hause, damit ich mir etwas Anständiges anziehen kann.«

Sie schlenderte hinaus, während er seine Socken und seine Stiefel anzog. Die großzügige Raumaufteilung des Hauses verlockte sie dazu umherzuwandern. Als sie die Küche betrat, lächelte sie. Selbst in ihren kühnsten Träumen hatte sie nie in Betracht gezogen, sich auf einem Küchentisch lieben zu lassen. So etwas täte vielleicht eine ihrer Romanfiguren, aber doch nicht die ordnungsliebende Kate Drake, deren Frisur stets makellos war. Es würde ihr nie mehr möglich sein, einen Küchentisch oder eine Anrichte mit denselben Augen zu sehen wie bisher.

Matt lauschte Kates Schritten, als sie sich durch sein Haus bewegte. Er mochte ihren Geruch, die leisen Schritte und ihren stockenden Atem, wenn sie etwas ansah, was ihr gefiel.

»Matthew?«, rief Kate. »Du hast wirklich eine sehr interessante Küche. Ich wollte die Tassen in die Spülmaschine stellen, aber die scheint als Brotkasten benutzt zu werden.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Matt räusperte sich. »Ich habe die Spülmaschine noch nie eingeschaltet, Kate. Ich spüle das Geschirr mit der Hand.«

»Ich verstehe. Aber gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass du das Obst im Mikrowellenherd aufbewahrst?«

Er eilte in die Küche. »Ich finde das sehr praktisch. Was suchst du?«

Sie lächelte ihn schelmisch an. »Du kochst nicht allzu oft, stimmt's?«

Er rieb seinen Nasensteg. »Meine Barbecues haben es in sich.«

»Darauf würde ich wetten. Bist du fertig?«

Matt nahm sie an der Hand und zog sie eng an sich, als sie in die Morgenluft hinaustraten. Sie passte zu ihm und sie gehörte an seine Seite. Aber das glaubte sie ihm nicht. Er konnte die Vorbehalte in ihren Augen sehen, doch er war wild entschlossen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Sämtliche Stammkunden sahen das Lebensmittelgeschäft als den Mittelpunkt der Stadt an. Inez Nelson verstand sich auf den Umgang mit Menschen. »Fremde« gab es für sie nicht und fast alle kauften bei ihr ein, wenn auch in erster Linie, um nicht alle Neuigkeiten zu verpassen und um Inez zu sehen. Sie kannte jede der Drake-Schwestern schon von Geburt an und betrachtete sie beinah als Verwandte.

Matt parkte seinen Wagen gleich links neben dem Lebensmittelgeschäft am Hauptplatz. »Der Weihnachtsumzug wird immer beliebter. Dieses Jahr wollen so viele Leute daran teilnehmen, dass ich glaube, wir brauchen demnächst einen größeren Hauptplatz. Die Darsteller können sich auf dem Weg zur Krippe kaum noch einen Weg durch die Menschenmenge bahnen.«

»Ich finde es wunderbar, dass alle daran teilnehmen. Die Kinder haben hinterher solchen Spaß, wenn der Weihnachtsmann mit seinem Rentier auftaucht und Zuckerstangen verteilt.« Kate nahm die Hand, die Matt ihr hinhielt. Sie standen gemeinsam vor der Krippe auf dem Hauptplatz und staunten darüber, dass die Figuren mit Ausnahme der Heiligen Drei Könige bereits gesäubert worden waren und dass die Krippe wieder aufgebaut war. Am Heiligen Abend würde das Krippenspiel mit Menschen aufgeführt werden, aber bis dahin konnte man die Figuren bewundern, die ein ortsansässiger Bildhauer geschaffen hatte. Mehrere Künstler hatten an der Krippe mitgewirkt und den Stall errichtet und andere hatten den gesamten Hintergrund bemalt. Dieses Jahr war es Inez gelungen, eine Pulvermasse aufzutreiben, die genau wie Schnee aussah und die sie zur Begeisterung und zur Belustigung ihrer Mitbürger auf dem Dach des Stalles und auf dem Boden um den Stall herum verstreut hatte. Schnee bekam man in diesem Küstenort nur selten zu sehen.

»Was glaubst du wohl, wie viele Kinder sich schon auf den Hauptplatz geschlichen haben, um eine Schneeballschlacht zu machen?« Matt senkte seine Stimme und sah sich um, denn er rechnete fast damit, dass Inez ihn hören würde, obwohl sie außer Hörweite in ihrem Laden stand.

Kate drehte sich lachend zu ihm um. »Du hättest es getan, stimmt's?«

Schatten, die sich schnell voranbewegten, glitten über den Boden und zogen vor die Sonne. »Da kannst du Gift drauf nehmen. Jonas und ich hätten eine Festung aus Schnee errichtet und einen Hagel von Schneebällen auf jeden niedergehen lassen, der in Wurfweite gekommen wäre.« Sein Lächeln verblasste schon, bevor er seinen Satz beendet hatte. Er packte ihren Arm, um ihre Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was er ihr zeigen wollte. Sein Kopf wies mit einem Ruck zum Himmel. Die Luft über ihnen war mit Möwen erfüllt, die schnell landeinwärts flogen. Die Vögel waren gespenstisch stumm und ihre großen Flügel schlugen, als sie sich schleunigst vom Meer entfernten.

Kate schüttelte den Kopf und blickte aufs Meer hinaus. Der graue Nebel wälzte sich schnell heran. Er waberte und wogte, eine brodelnde Masse, die ungezähmte Energie zur Schau stellte. Gezackte orangerote Blitze leuchteten inmitten des grauen Dunstes auf.

Matt fluchte und zerrte Kate zum Laden. »Lass uns reingehen.«

»Seine Kraft nimmt wirklich ständig zu«, sagte Kate.

Matt konnte spüren, dass sie von Kopf bis Fuß zitterte. Er zog sie enger an sich. »Wir wussten, dass seine Kraft zunehmen würde, Kate. Man sollte meinen, das verdammte Ding würde mal Pause machen und uns in Ruhe lassen. Aber wir werden dahinterkommen, was es damit auf sich hat.«

»Ich weiß.« Sie ging mit ihm zum Lebensmittelladen. Die Wesenheit wurde stärker und Kate fühlte sich überfordert, müde und zerbrechlich. Aber das konnte sie Matt nicht gut sagen. Er machte sich ohnehin schon solche Sorgen um sie. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Wie kam es bloß, dass sie ihm diese enorme Einsamkeit nie angesehen hatte? Und auch nicht sein schmerzliches Verlangen? Es saß so tief und war so intensiv, dass sie manchmal darin zu versinken drohte, wenn er sie ansah. Und doch konnte sie, als er neben ihr herlief, ein großer, imponierender Mann mit breiten Schultern, mächtigem Brustkorb und Augen, die nie stillhielten, immer noch nicht wirklich fassen, dass er sie liebte.

Matt legte Kate einen Arm um die Schultern, als sie das Gebäude betraten. Wie immer drängten sich Kunden in dem kleinen Geschäft. Inez begrüßte die beiden lautstark und sah sie mit ihren strahlenden Augen und einem fröhlichen Lächeln forschend an. »Kate, wie schön dich zu sehen. Und dann auch noch mit Matt. Ich schwöre es dir, Matt, du wirst von Tag zu Tag größer.«

Ihre Bemerkungen verwandelten ihn nachhaltig in einen Jungen zurück. Das brachte nur Inez fertig. »Heute fühle ich mich tatsächlich ein paar Zentimeter größer, Inez.« Er zwinkerte Kate zu.

»Kommt ihr beide zur Probe für den Weihnachtsumzug?«, fragte Inez. »Nach dem Fiasko kürzlich habe ich eine weitere Zusammenkunft organisiert. Niemand macht Abbey Vorwürfe, Kate. Schließlich ist es ja nicht ihre Schuld, dass dieser  miese Bruce Harper eine Affäre mit Sylvia Fredrickson hat, dem männermordenden kleinen Biest.«

»Abbey hat sich elend gefühlt, Inez«, sagte Kate. »Es hat doch bestimmt Probleme verursacht.«

»Tja, Bruces Frau hat ihn verlassen. Du weißt ja, dass sie hochschwanger ist und es jeden Tag so weit sein kann. Sie sind alle aus der Inszenierung ausgestiegen und ich musste Ersatz finden.« Inez sah Matt finster an. »Danny hat sich ganz schön aufgespielt. Er hat behauptet, er sei nicht sicher, ob er mit Laienschauspielern zusammenarbeiten könnte. Daraufhin habe ich ihm gesagt, er sei selbst ein Laienschauspieler.«

»Aber, Inez«, protestierte Kate, »das können Sie doch nicht tun. Bestimmt hat es ihn tief getroffen.«

Einen Moment lang schürzte Inez die Lippen und wirkte reumütig. »Er hat es nicht besser verdient«, sagte sie dann. »Ich habe schon genug Schwierigkeiten. Da kann ich es nicht auch noch gebrauchen, dass sich der Junge über seine Rolle beschwert. Die Heiligen Drei Könige sind nervös und ich fürchte, sie haben vor, alle geschlossen auszusteigen. Ich möchte den Umzug nicht ausfallen lassen. Seit der Gründung dieses Städtchens hat er jedes Jahr stattgefunden.«

»Danny wird nicht aussteigen. Ihm macht es Spaß, diese Schafe durch die Gegend zu scheuchen«, sagte Matt.

Inez schaute finster. »Es macht ihm Spaß, sie auf die Kinder zu hetzen und einen riesigen Tumult auszulösen.«

»Das ist wahr«, sagte Matt belustigt, doch sein Blick war auf die grauweißen Nebelfetzen geheftet, die sich in das Städtchen stahlen. Er entfernte sich von den beiden Frauen und trat näher an das Schaufenster, um den Nebel eingehend zu mustern. Den Feind. Es war eine seltsame Vorstellung, den Nebel, an der Küste eine nahezu alltägliche Erscheinung, als Feind anzusehen.

Ihm schien es, als streckten sich lange, dünne Arme mit knochigen Fingern nach den Häusern aus und tasteten sich vor. Das Bild war so eindringlich, dass Matt einen Schritt näher ans Fenster trat, die Augen zusammenkniff und in den Nebel lugte. »Katie, komm doch bitte mal kurz her«, sagte er leise und hielt ihr seine Hand hin, ohne den Blick vom Nebel zu lösen. Etwas bewegte sich darin.

Kate legte ihre Hand augenblicklich in seine und stellte sich neben ihn. »Was ist?«

»Schau in den Nebel und sag mir, was du siehst.«

Kate betrachtete den Dunst, der sich rasch voranbewegte. Er wurde zusehends dunkler und wogte und brodelte ungestüm. Sie erschauerte, als lange Schwaden über die Schnellstraße zogen und um die Wohnhäuser zu schleichen begannen. Sie dachte unwillkürlich an ein Raubtier, das Jagd auf etwas machte und schnupperte, um die richtige Witterung aufzunehmen. Auch sie glaubte zu sehen, dass sich inmitten der dichten Nebelbank etwas bewegte, dessen Umriss vage an einen großen Mann in einem langen, wehenden Mantel und einem alten Hut erinnerte. Sie erhaschte einen Blick auf eine Gestalt, die gleich darauf in dem wabernden Dunst verschwand und im nächsten Moment wieder auftauchte und an den Rändern der wirbelnden Masse zerfloss. Die Gestalt war groß und hatte nackte weiße Knochen, erbarmungslose Augen und einen weit geöffneten Mund. Kate wich zurück und keuchte. Das Skelett hatte nicht nur Gestalt angenommen, sondern sich außerdem vervollständigt. Diesmal war der gesamte Brustkorb intakt und kleine Fleischlappen hingen daran und ließen die Erscheinung noch grotesker wirken als zuvor.

Kate legte eine Hand auf ihre Kehle, um den Schrei zu ersticken, der in ihr aufstieg, als sie möglichst weit vom Fenster zurückwich. Jetzt merkte sie, dass im Geschäft gespenstische Stille herrschte. Inez und die Kunden starrten furchtsam zum Fenster hinaus.

»Es nimmt Gestalt an, nicht wahr?«, fragte Matt.

Jonas kam mit grimmiger Miene in den Laden hereinstolziert, gefolgt von Jackson. »Kate, geh raus und schaff uns das vom Hals, bevor es Todesopfer fordert«, herrschte Jonas sie jäh an und ignorierte alle anderen. »Auf der Schnellstraße ist die Sicht so miserabel, dass an Fahren nicht zu denken ist. Ich habe im Radio eine Warnung durchgegeben, aber bei diesen Sichtverhältnissen werden nicht nur Leute über den Rand der Klippen fahren. Auch Fußgänger werden abstürzen. Bedauerlicherweise hört nicht jeder Radio.«

»Scher dich zum Teufel, Jonas.« Matt war wütend. Sogar sehr wütend. Auf das Ding im Nebel. Und auf Jonas und auf seine eigene Unfähigkeit, diese Wesenheit aufzuhalten. »Du wirst Kate nicht hinausschicken und du wirst sie auch nicht zwingen, es noch einmal allein gegen dieses verdammte Ding aufzunehmen. Sie fürchtet sich und sie ist müde und der Teufel soll mich holen, wenn ich zulasse, dass du ihr drohst und ihr einredest, sie sei dafür verantwortlich und müsste ganz auf sich gestellt den Kampf dagegen aufnehmen. Wenn du jemanden willst, der gemeinsam mit dir dagegen kämpft, stehe ich gern zur Verfügung.«

»Verdammt noch mal, Matt, leg dich bloß nicht mit mir an. Du weißt genau, dass ich dagegen kämpfen würde, wenn ich auch nur die geringste Chance hätte. Aber die habe ich nicht. Das fällt in den Bereich der Drakes, nicht in meinen«, sagte Jonas aufbrausend.

Kate legte jedem der beiden Männer eine Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten. »Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, sind Streitigkeiten zwischen uns. Jonas, ich kann es allein nicht schaffen. Ich kann es wirklich nicht. Ich brauche Hannah.« Sie schmiegte ihren Kopf an Matts Brust. »Ich kann den Wind nicht befehligen, das kann nur Hannah. Und sie ist vom Kampf gegen dieses Ding restlos erschöpft. Meine Schwestern haben die ganze Zeit über mit mir zusammengearbeitet. Ohne Hannah können wir nichts ausrichten.«

Matt sah in ihr Gesicht hinunter und erkannte die tiefen Furchen der Ermattung. Kate war deutlich anzusehen, dass sie sich viel zu sehr verausgabt hatte, und zum ersten Mal fielen ihm Spuren von Unsicherheit an ihr auf. Er schlang seine Arme enger um sie und wandte sich an Jonas. »Wie schlimm ist es draußen? Können sie dieses Mal aussetzen und sich ausruhen?«

»Langsam habe ich diese Geheimniskrämerei satt, wenn es um Hannah geht«, sagte Jonas, der offensichtlich versuchte sich zusammenzureißen. Gegen diese Wesenheit fühlte er sich genauso machtlos wie Matt und das machte ihm sichtlich zu schaffen. »Es mag zwar sein, dass wir im Kriegszustand sind, aber wenn Hannah krank ist, dann ist mir das keineswegs gleichgültig, Kate. Ihr seid schon so weit ich zurückdenken kann meine Familie.«

Kate konnte physisch wahrnehmen, dass Matt wütend war, weil Jonas ihr gegenüber diesen Tonfall angeschlagen hatte. Sie rieb ihren Kopf an seiner Brust. »Das weiß ich doch, Jonas. Hannah ist auch bewusst, dass du wütend bist. Du weißt doch, dass wir alle völlig erschöpft sind, nachdem wir unsere Kräfte eingesetzt haben. Hannah muss ungeheure Mengen Energie darauf verwenden, etwas so Launisches wie den Wind zu befehligen. Der Einsatz unserer Gaben ist sehr anstrengend. Und was auch immer im Nebel ist, hat uns widerstanden und gewinnt ständig mehr Kraft, und daher kostet es uns noch größere Anstrengung, es zu bändigen.«

»Kannst du uns davon befreien, Kate?«, fragte Inez.

Alle, die im Laden anwesend waren, schienen den Atem anzuhalten, während sie auf ihre Antwort warteten. Kate konnte die Hoffnung fühlen. Und die Angst. Sämtliche Blicke waren auf sie gerichtet. »Ich weiß es wirklich nicht.« Aber sie musste es versuchen. Sie konnte bereits die weiblichen Stimmen in der sanften Brise flüstern hören, die vom Meer landeinwärts wehte. Sie fühlte, dass ihre Schwestern sie aufforderten, sich ihnen anzuschließen. Hannah hatte sich schon auf der Aussichtsplattform eingefunden, so schwach, dass sie sich kaum auf den Füßen halten konnte, doch sie stellte sich dem Nebel und wartete auf Kate. Sarah und Abbey standen neben ihr und Joley war inzwischen eingetroffen. Sie war zwei Tage unterwegs gewesen und doch stand sie Schulter an Schulter mit ihren Schwestern und alle warteten auf Kate.

Kate schloss die Augen und holte tief Luft, um ihre Kraft aufzubieten. Ihren Mut. Sie wurde von einer lähmenden Angst gepackt, die ihr nur allzu sehr vertraut war. Wie Hannah litt auch sie unter schweren Panikanfällen. Aber im Gegensatz zu Hannah war sie keine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Als Schriftstellerin mochte zwar ihr Name bekannt sein, aber nicht ihr Gesicht. Sie konnte mühelos mit dem Hintergrund verschmelzen, doch jetzt waren alle Blicke auf sie gerichtet. Erwartungsvoll. Alle erhofften sich, Kate würde irgendeinen Zauber bewerkstelligen, und dabei wusste sie noch nicht einmal, womit sie es überhaupt zu tun hatte.

Matt spürte die kleinen Schauer, die durch Kates Körper rieselten. Er drehte sie um und wandte sie von allen im Laden ab. Sein größerer Körper schob sich schützend vor sie. »Du musst es nicht tun, Katie.« Seine Stirn war an ihre gepresst, als er diese Worte flüsterte.

»Doch«, flüsterte sie zurück.

Jonas stellte sich instinktiv vor sie, um sie vor neugierigen Blicken zu beschützen. Jackson wandte sich mit gesenkter Stimme an die Menge. Er sprach so leise, dass alle sich anstrengen mussten, um seine Worte zu hören. Doch das tat seiner uneingeschränkten Autorität nicht den geringsten Abbruch. »Inez, sorgen Sie dafür, dass sich alle mitten im Laden aufstellen und Abstand von den Schaufenstern halten. Kate braucht Platz. Wir haben keine Ahnung, was passieren wird, und wir wollen nicht riskieren, dass es Verletzte gibt.«

Kate war den drei Männern dankbar. Sie holte noch einmal tief Atem, löste sich von Matt, riss zielstrebig die Tür auf und schlüpfte hinaus, bevor ihr Mut sie im Stich ließ. Augenblicklich spürte sie die Böswilligkeit, ein bitteres, abartiges Gefühl, das ihr entgegenschlug. Der dunkle Nebel schlang sich um ihren Körper und zweimal spürte sie tatsächlich, wie etwas Lebendiges sie streifte und über ihre Haut glitt. Sie biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Schon jetzt floss Kraft in sie hinein – ihre Schwestern streckten ihr die Arme entgegen und riefen ihr ermutigende Worte zu.

Matt schloss sich ihr draußen vor der Tür an, glitt lautlos hinter sie und schlang seine Arme um ihre Taille. Er zog sie an seinen kräftigen und tröstlichen Körper, um ihr Halt zu geben. Jonas bezog rechts neben ihr Stellung und Jackson hatte seinen Posten an ihrer linken Seite bezogen. Drei kräftige Männer, ausnahmslos kampferprobte Krieger und alle bereit, sie mit ihrem Leben zu verteidigen. Es war unmöglich, den Mut und die Kraft, die sie benötigte, nicht zu finden, wenn ihr beides aus allen Richtungen entgegenströmte.

Kate stellte sich dem dunklen, brodelnden Nebel und hob ihre Arme, um Hannah ein Zeichen zu geben, ihr zu signalisieren, dass sie Wind aufkommen lassen sollte. Sie begann mit leiser Stimme zu sprechen, ruhig und besänftigend, indem sie ihre Gabe einsetzte, um der berstenden Böswilligkeit im Nebel Frieden zu bringen. Sie sprach von innerer Ruhe, von Liebe, von Erlösung und Vergebung. Sie raffte jeden Funken Mut auf, den sie besaß, und unternahm keine Anstrengung, die Wesenheit zu vertreiben. Stattdessen rief sie sie zu sich und versuchte, einen Weg zu finden, den Schleier zwischen der Realität und der Schattenwelt zu durchdringen, in der sie in die Seele dessen blicken konnte, was zurückgeblieben war. Sie hoffte eine Möglichkeit zu finden, den zerrütteten Geist zu heilen.

Der Nebel wogte und waberte, denn er reagierte heftig auf den Klang ihrer Stimme. Ihre Schwestern erhoben im ersten Moment Einspruch, da der Versuch, den sie unternahm, ihnen Angst einjagte, aber sie unterstützten sie nach Kräften, sowie sie ihre Entschlossenheit erkannten. Jonas gab einen kleinen unwilligen Laut von sich und rückte näher zu ihr, damit er jederzeit bereitstand, um sie mit einem heftigen Ruck in die Realität zurückzureißen.

Ein vielstimmiges Stöhnen bestürmte ihre Ohren. Die Schattenwelt war grau und nicht klar umrissen, ein trostloser verschwommener Ort, an dem nichts das war, was es zu sein schien. Sie sang leise und ihre Stimme breitete sich ohne viel Mühe in dieser Welt aus, brachte das Stöhnen zum Verstummen und lenkte die Aufmerksamkeit dessen, der dort lebte, auf ihre Anwesenheit. Kate spürte, wie es ihr den Atem verschlug, als er erkannte, dass sie sich wieder einmal in seine Welt begeben hatte. Sie konnte seinen glühenden Zorn fühlen, seine unbändige Wut, aber auch die Intensität seines Schuldbewusstseins und seines Kummers. Das Ding wandte sich ihr zu, das große Skelett eines Mannes, das jedoch verschwommen war und sich kaum gegen den grauen Dunst absetzte, der es umgab. Es trug einen langen Mantel und einen unförmigen Hut, und es schüttelte den Kopf und presste sich die knochigen Hände auf die Ohren, um den Zauber und die Lockung ihrer Stimme von sich fernzuhalten. Fleisch hing von den Knochen. Stellenweise saß es lose, doch an anderen Stellen war es straff gespannt.

Kate flüsterte ihm sanft zu, rief ihn, lockte ihn zu sich und versuchte, ihn zu überreden, ihr die Qualen zu enthüllen, die er litt, die Marter seiner Existenz. Sie flehte ihn an, Frieden zu finden. Die verschwommene Gestalt machte ein paar Schritte auf sie zu. Kate streckte ihr eine Hand entgegen, eine Geste der Kameradschaft. Es gibt wahre Seelenruhe. Lass zu, dass sie dich einhüllt.

Das Wesen kam einen weiteren behutsamen Schritt auf sie zu. Ihr Herz pochte heftig. Ihr Mund war trocken, doch sie flüsterte unbeirrt weiter. Sprach mit ihm. Versprach ihm Ruhe. Jetzt war es nicht mehr weit von ihr entfernt und hatte einen Arm nach ihrer Hand ausgestreckt. Die knochigen Finger kamen näher. Nur noch wenige Zentimeter trennten diese Knochen von ihrem Fleisch. Sie erinnerte sich daran, wie es sich angefühlt hatte, als sich die Fingerknochen um ihre Kehle geschlossen hatten, doch sie wich nicht zurück und lockte ihn weiterhin an.

Etwas glitt um seine Stiefel herum. Ranken wanden sich wie Schlangen um seine Knöchel. Aus den unwirtlichen Felsen sprang ein riesiges Geschöpf mit verfilztem Fell und gelben Augen. In der Kälte der Schattenwelt konnte sie sehen, wie sich der dampfende Atem der Kreatur mit dem Nebel vermischte. Die Augen des Geschöpfs waren starr auf sie gerichtet, einen Eindringling in dieser Welt.

Ihre Fingerspitzen berührten die Enden der Knochen des Skeletts, als es die Hand nach ihr ausstreckte. Die Kreatur heulte auf und ihr Geheul sandte einen Schauer der Furcht über Kates Rücken. Ihre Schwestern hielten kollektiv den Atem an. Jonas nahm eine steifere Haltung ein und signalisierte Matt und Jackson seine Sorge.

Kate flüsterte weiterhin und versprach Seelenfrieden, Unterstützung und einen Ort, an dem man sich ausruhen konnte. Die Konturen des Wesens zeichneten sich klarer ab und in den erbarmungslosen Augen standen Tränen, als es seine Hand so weit ausstreckte, wie es die schlangenartigen Ranken zuließen. Dann warf das Skelett abrupt den Kopf zurück, brüllte und verschmähte sie. Verschmähte die Vorstellung von Erlösung und Vergebung. Kate konnte den rasenden Hass dieses Wesens erkennen, Hass auf sich selbst, auf alles, was Weihnachten symbolisierte, und auf den Frieden als solchen. Es kann keinen Frieden geben. Diese Worte schnappte sie auf, als das Wesen sich wutentbrannt um sich selbst zu drehen begann und den Wirbel, der dadurch entstand, dass es sich wild um seine eigene Achse drehte, dazu nutzte, Gegenstände nach ihr zu schleudern. Das vielstimmige Stöhnen schwoll zu schrillem Kreischen an. Die riesige Kreatur sprang mit großen Sätzen auf Kate zu und schnaubte so laut wie ein Stier. Kate versuchte ein letztes Mal, die Hand des Skelettes zu packen, doch das hatte sich jetzt restlos gegen sie gewandt und stürzte sich gemeinsam mit der Bestie auf sie.

»Holt sie da raus!«, schrie Jonas, der die kollektive Furcht wahrnahm, von der die Drake-Familie ergriffen worden war. Er packte Kates Arm unsanft und schüttelte sie. »Matt, reiße sie zu uns zurück!«

»Kate«, schrien ihre Schwestern auf, »verlasse ihn, lass ihn dort.«

»Hannah!«, schrie Jonas verzweifelt. »Der Wind, Hannah, sende den Wind.«

Kate starrte die grässliche Gestalt an, die geradewegs auf sie zukam, von rasender Wut gezeichnet. Die Augen glühten rot durch den dunklen Nebel; das Gesicht bestand nur aus Knochen, nicht aus Fleisch. Der Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen. Sie war in der Welt der Schatten gefangen, die real und zugleich doch nicht real war, und sie war nicht in der Lage, den Rückweg zu finden. Das Schlimmste daran war, dass ihr Blick auf eine zweite unwirkliche Gestalt fiel, die von links auf sie zukam.

»Kate.« Matt flüsterte ihren Namen und hob sie auf seine Arme. Ihr Körper war eine leere Hülle, ihre Seele an einem anderen Ort gefangen.

»Kate, Liebling, geh mit dem anderen, er wird dich  hinausführen.« Elles sanfte Stimme ließ alles andere in den Hintergrund treten.

Der finstere Damon hatte sie fast erreicht. Kate fühlte eine Hand auf ihrem Arm. Sie blickte hinunter und sah Jacksons Finger, die sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk gelegt hatten. Sie hatte keine Zeit, freiwillig mit ihm zu gehen; er riss sie aus der Schattenwelt hinaus und zurück ins Licht. Sie hörte Wutgeheul und erschauerte, als sie spürte, wie Knochen ihre Haut berührten. Matt war real und greifbar und sie klammerte sich fest an ihn, da sie dringend Halt brauchte. Ihr war übel, ihr Magen ein Knoten, der sich auflehnte. Sie schloss die Augen und versank in eine tiefe Ohnmacht.

Vom Meer fegte der Wind heran, ein peitschender Sturm der Vergeltung. Hannahs Furcht verlieh dem Sturm zusätzliche Kraft. Ein prasselnder Regenguss ging auf sie hinunter. Der dunkle Nebel wirbelte im Kreis und setze sich zur Wehr, denn er wollte nicht weichen. Für einen kurzen Moment kam es zu einer heftigen Konfrontation zwischen der Wesenheit und den Drake-Schwestern. Stöcke und Unrat flogen im Wind. Die drei Männer konnten das verzweifelte Geschrei der Möwen hören. Und dann war es vorbei. Der Nebel trat den Rückzug zum Meer an und ließ Stille und den stürmischen Wind und Regen zurück. Matt stand auf dem Bürgersteig, hielt Kate in seinen Armen und starrte schockiert den angerichteten Schaden an.

Über ihren Köpfen verbargen Wolken die Sonne und es war ein düsterer, verhangener Tag. Weihnachtliche Lichterketten, die an Gebäuden gespannt waren, blinkten in leuchtenden Farben und bildeten einen unglaublichen Kontrast zu dem grauenhaften Anblick, den der Hauptplatz bot. Überall lagen Federn verstreut und im jungfräulich weißen Schnee neben der Krippe hatte sich eine leuchtend rote Blutlache gebildet.

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